Keine Verpflichtung des AG zur stufenweisen Wiedereingliederung schwerbehinderter Beschäftigter bei abweichender betriebsärztlicher Beurteilung

BAG, Urteil vom 16.05.2019 – 8 AZR 530/17

1. Der Sachverhalt

Der mit einem Grad der Behinderung von 70% schwerbehinderte Kläger war bei der beklagten Stadt als technischer Angestellter (Bauleiter) beschäftigt. Der Kläger wies lange krankheitsbedingte Fehlzeiten auf; arbeitsmedizinische Gutachten hatten im Laufe der Zeit zunehmende Einschränkungen der Einsatzfähigkeit und zuletzt eine negative Prognose zur weiteren Entwicklung der krankheitsbedingten Ausfallzeiten attestiert.

Im Rahmen einer betriebsärztlichen Untersuchung wurden am 12.10.2015 erhebliche Einschränkungen in der Ausübung von Tätigkeiten durch den Kläger festgestellt. Mit einem Wiedereingliederungsplan seines Facharztes für Neurologie und Psychotherapie vom 28.10.2015 beantragte der Kläger eine stufenweise Wiedereingliederung für einen Zeitraum von zwei Monaten vom 16.11.2015 bis zum 15.1.2016. In dem Wiedereingliederungsplan waren keine Aussagen zu etwaigen Einschränkungen enthalten. Die Beklagte lehnte die Wiedereingliederung mit der Begründung ab, der Einsatz des Klägers sei unter Berücksichtigung der betriebsärztlich attestierten Einschränkungen nicht möglich. Eine nach weiterer Behandlung des Klägers durchgeführte Wiedereingliederung in der Zeit vom 4.1.2016 bis zum 4.3.2016 war erfolgreich.

Der Kläger verlangt von der Beklagten Schadensersatz für den Zeitraum vom 18.1.2016 (ab dem fiktiven Abschluss der ersten Wiedereingliederung) bis zum 6.3.2016 (dem Ende der tatsächlich erfolgten Wiedereingliederung) in Form des ihm in dieser Zeit entstandenen Verdienstausfallschadens. Das ArbG Frankfurt a.M. hat die Klage abgewiesen, das LAG hat ihr im Wesentlichen stattgegeben.

Die Revision der Beklagten führte zur Aufhebung und Abweisung der Klage.

2. Die Entscheidung

Das BAG bestätigt zunächst seine bisherige Rechtsprechung, wonach Arbeitgeber gemäß § 81 IV 1 SGB IX a.F. (§ 164 IV 1 SGB IX n.F.) grundsätzlich verpflichtet sind, eine stufenweise Wiedereingliederung schwerbehinderter Arbeitnehmer zu ermöglichen. Zwar bestehe nach der Rechtsprechung des BAG kein Anspruch von AN auf eine stufenweise Wiedereingliederung, da das Prinzip der Freiwilligkeit gelte.

Etwas anderes gelte jedoch, wenn es um die Wiedereingliederung eines schwerbehinderten oder einem solchen gleichgestellten AN gehe, da § 81 IV 1 SGB IX einen Beschäftigungsanspruch gewähre und dieser durch eine krankheitsbedingte Unfähigkeit zur Erbringung der vertraglich vereinbarten Tätigkeit nicht ausgeschlossen werde. Allerdings setze ein Anspruch des schwerbehinderten AN voraus, dass dieser einen Eingliederungsplan vorlege, aus dem sich Art und Weise der empfohlenen Beschäftigung und deren Umfang, möglicherweise bestehende Einschränkungen und der voraussichtliche Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Tätigkeit ergeben. Diesen Anforderungen habe der von dem Kläger vorgelegte Stufenplan auch entsprochen. Allerdings habe dieser im Widerspruch zu den Feststellungen der Betriebsärztin gestanden, nach deren Bericht die Beklagte die Befürchtung habe hegen dürfen, dass der Gesundheitszustand des Klägers eine Wiedereingliederung ohne Einschränkungen nicht zulassen werde. Diese Zweifel seien auch durch die Beklagte nicht aktiv ausräumbar gewesen, der Kläger habe hierzu nichts geltend gemacht. Ein Schadensersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagte wegen Verletzung einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht sei daher nicht begründet.

3. Hinweis für die Praxis

Dass der Beschäftigungsanspruch eines schwerbehinderten AN nach dem SGB IX zu den arbeitgeberseitigen Nebenpflichten gehört, deren schuldhafte Verletzung Schadensersatzansprüche auslösen können, gehört zur konsistenten Rechtsprechung des BAG in diesem Zusammenhang und den wichtigen Errungenschaften zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben.

Dass die Einschätzung von Ärzten zur Arbeitsunfähigkeit, deren Ursachen und Beseitigung und zu bestehenden Einschränkungen häufig jedes Augenmaß vermissen lassen, gehört leider zur betrieblichen Praxis. Das BAG hat mit dieser Entscheidung über die in § 81 IV 3 SGB IX a.F. (§ 164 IV 3 SGB IX n.F.) gesetzlich geregelten Ausnahmen von der Beschäftigungspflicht wegen Unzumutbarkeit oder unverhältnismäßiger Aufwendungen, die praktisch nicht relevant sind, dem AG mit der Überprüfung des Wiedereingliederungsplans auf möglicherweise damit verbundenen nachteiligen Folgen für den AN ein Verweigerungsrecht zuerkannt, das in der Praxis hilfreich sein könnte. Dies gilt insbesondere dann, wenn tarifvertragliche Vorschriften (wie z.B. § 3 IV TVöD und BAT-KF, § 3 III TV-V, § 6 I AVR) dem AG die Möglichkeit einräumen, die Arbeitsfähigkeit eines AN „aus begründeter Veranlassung“ arbeitsmedizinisch überprüfen zu lassen.

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